
Vom Hörsaal nach Hollywood
03.07.2018 | Die Erfolgsgeschichte von "Watu Wote"

Weltweit hat der Kurzfilm "Watu Wote – All of us" Publikum und Festivaljurys begeistert und war 2018 für den Oscar nominiert. Wer dahinter steckt? Katja Benrath, Tobias Rosen, Julia Drache und Felix Striegel – vier Absolventen der Hamburg Media School (HMS).
»Es gab eine Phase, da hatten wir genauso viele Preise wie Festivals. Das war eine ganz schräge Quote. Nicht weil wir jeden Preis gewonnen hatten, sondern weil wir manchmal auf einem Festival zwei Preise bekamen«, erklärt Regisseurin Katja Benrath. Sie kann den Erfolg der vergangenen Monate kaum in Worte fassen: »Das letzte Jahr an der Hamburg Media School war sehr geprägt von diesem Film, eine Mischung aus Anspannung und Euphorie. Hoch emotional in alle Richtungen.« Denn trotz goldenem Studenten-Oscar war 2017 auch der Start in die Arbeitswelt für die vier HMS-Absolventen – eine Phase, die für viele junge Erwachsene von Zukunftsängsten und Unklarheiten geprägt ist. »Ich war in diesem Hartz-IV-Konstrukt, mit dem ich mich über Wasser hielt – und parallel habe ich denen im Jobcenter erklärt, dass ich jetzt nach New York auf ein Festival muss. Das war eine sehr surreale Erfahrung.«

Welche Wucht ihr Kurzfilm Watu Wote in sich trägt, dämmerte den vier Filmschaffenden bereits im Schnitt. Für Drehbuchautorin Julia Drache liegt das an der Botschaft, die der Film vermittelt: »Die Aussage ist so einfach und hat überall auf der Welt eine Relevanz.« Der Film erzählt eine wahre Geschichte, die sich am 21. Dezember 2015 an der Grenze zwischen Kenia und Somalia zugetragen hat. Als islamistische Terroristen einen Reisebus überfielen, haben sich die muslimischen Insassen schützend vor ihre christlichen Mitreisenden gestellt. »Als ich von dem Vorfall las, konnte ich nicht verstehen, wie die Muslime es geschafft hatten, die Angreifer ohne Waffen zu überwältigen. Ich war auf der Suche nach dem Geheimrezept, den Worten, die man Islamisten sagen muss, damit sie den Rückzug antreten«, erzählt Drache. Die Drehbuchautorin musste sich durch unzählige Zeitungsartikel und Videos wühlen, um herauszufinden, wie der Überfall wirklich abgelaufen ist. Doch erst vor Ort konnte sie die Geschichte mit der Hilfe von Augenzeugenberichten sinnvoll rekonstruieren – diese Geschichte ist jetzt im Film zu sehen.
Katja Benraths erste eigene Regiearbeit Tilda (2015) wurde von der Filmwerkstatt Kiel gefördert. "Das war für mich eine wunderschöne Erfahrung, weil ich in meinem Heimatort Lübeck gedreht habe – bei meiner Mutter im Keller, in der Kirche in Travemünde, beim Chor, in dem ich früher gesungen habe."
Für Produzent Tobias Rosen, der seine Kindheit in Südafrika verbracht hat, war es eine Herzensangelegenheit, seinen Abschlussfilm in Afrika zu drehen. »Ich hatte Raju von Stefan Gieren und Max Zähle (HMS-Absolventen und Studenten-Oscar-Gewinner von 2010, Anm. d. R.) gesehen, da war ich noch Schauspieler bei Rote Rosen. Raju war für mich ein bisschen der Antrieb zu sagen: „Ich möchte noch mal an eine Filmhochschule". Ich hatte dann direkt bei dem Aufnahmegespräch gefragt, ob ich meinen Abschlussfilm nicht auch im Ausland drehen könnte – am liebsten in Afrika.«

Kurz vor dem Einreichtermin der HMS-Abschlussprojekte ging dann die Nachricht über den Busüberfall in Kenia durch die Medien. Für das Viererteam war umgehend klar, dass sie genau nach einer solchen Geschichte für ihren Abschlussfilm gesucht haben. Ihnen war jedoch wichtig, den Film nicht aus einer europäischen Perspektive zu erzählen, weshalb die 120-köpfige Filmcrew vor allem aus Filmschaffenden aus Kenia bestand – lediglich sechs Deutsche waren dabei. »Wir wollten einen Film, der genauso ihrer ist wie unserer«, erklärt Tobias Rosen. Auch beim Schreiben des Drehbuchs ließ sich Julia Drache von zwei kenianischen Script Consultants beraten.

Auch der Film selbst sollte so authentisch wie möglich werden. »Deshalb sind die Nächte auch wirklich dunkel, da es als einzige Lichtquellen im Bild nur Feuer oder kleine Glühbirnen gibt. Das war alles kein Zufall, sondern das Ergebnis langer Überlegungen«, erklärt Kameramann Felix Striegel. »Alle Kostüme sind speziell ausgewählt, um in die Farbwelt zu passen. Selbst die Vorhänge im Bus sind abgestimmt.«
Auf die Frage, wie dann die Dreharbeiten liefen, antwortet Tobias Rosen lachend: »Kenianisch. Wenn du versuchst, nach deutschen Regeln zu drehen, gehst du dort total baden.« Felix Striegel erklärt: »Es war aber eine spannende Erfahrung, mit einem komplett fremden Team unter ganz anderen Bedingungen zu drehen. Das Licht in Kenia ist beispielsweise ganz anders und ich musste mir genau überlegen, wie ich diese intensiven Farben dem Publikum transportieren kann. Die Vegetation, die rote Erde, die bunte Kleidung der Menschen, der Sonnenverlauf, alles.«
Trailer - Watu Wote

Wie stolz Kenia auf den Film ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sich zur kenianischen Filmpremiere auch der Präsident des Landes angemeldet hat, wie Tobias Rosen erklärt. »Ich hatte versucht, ihn über zwei Ecken zu kontaktieren. Sein persönlicher Berater hat den Film dann vorab erst mal angeschaut und mir im Anschluss eine große Liebesmail geschrieben.« Besonders stolz ist das Filmteam auf die Auszeichnungen von den Filmfestivals auf Sansibar und in Durban, einem großen Filmfestival in Südafrika. »Bei letzterem haben wir sogar den Preis für den besten afrikanischen Film bekommen«, freut sich Katja Benrath.
2017 Watu Wote, Katja Benrath
2015 Sadakat, Ilker Çatak
2011 Raju, Max Zähle
2005 Ausreißer, Ulrike Grote
2003 Die rote Jacke, Florian Baxmeyer
Zur Verleihung des Studenten-Oscars – eigentlich ein Regiepreis – ist das gesamte Team nach Los Angeles gereist. In der Woche konnten sie viele alte Academy-Mitglieder kennenlernen, die an den großen Filmklassikern beteiligt waren – von Kostüm über Drehbuch bis zur Produktion. Mit solchen Menschen im Gespräch zu sein war für die gebürtige Lübeckerin Benrath faszinierend und lehrreich zugleich: »Als Künstlerin und Filmemacherin ist man ja manchmal frustriert oder verliert fast den Mut. Es war wahnsinnig inspirierend, mit den Menschen zu sprechen, die das eben genauso erleben, aber trotzdem dranbleiben.« Tobias Rosen hatte sich im Vorwege ein komplett eigenes Programm in Los Angeles zusammengestellt. »Ich war jeden Tag unterwegs und hab mich mit Leuten getroffen, zum Beispiel mit dem Produzenten von House of Cards und der Produktionsfirma von Wolfgang Petersen. Der Film war dafür ein echter Türöffner.«
Schon beim Dreh ihres Erstsemesterfilms Schwimmstunde an der Hamburg Media School haben Katja Benrath und Co gemerkt, dass sie trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten gut harmonieren. »Wir haben es alle super drauf, einander zu verzeihen und den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge nicht zu verlieren«, erklärt Julia Drache. Dass das Team es geschafft hat, vier Monate gemeinsam im Ausland zu leben und zu arbeiten, ist für Felix Striegel bemerkenswert. »Wir haben rund um die Uhr aufeinander gehockt. Und das muss man auch erstmal aushalten können. Dafür war es tatsächlich beängstigend harmonisch (lacht).«

Die Hamburg Media School hat seit 2003 bereits fünf Student Academy Awards gewonnen – ein Rekord in der deutschen Hochschullandschaft. Für Katja Benrath liegt das Erfolgsrezept in der Stoffauswahl: »Ich glaube, dass Richard Reitinger (künstlerischer Leiter der HMS, Anm.d.R.) ein gutes Gefühl für Geschichten hat. Ihm ist wichtig, dass es universelle Themen sind, politische Themen, die im internationalen Interesse funktionieren.« Oder wie Tobias Rosen es ausdrückt, die HMS will »Geschichten mit Hoffnung« erzählen.
Mit der Verfilmung des dänischen Jugendbuch-Bestsellers Pferd, Pferd, Tiger, Tiger von Mette Eike Neerlin steht bereits das nächste gemeinsame Projekt in den Startlöchern. Tobias Rosen hat sich bereits kurz nach dem Abschluss von Watu Wote auf die Suche nach einem Stoff gemacht. »Als ich den Roman gelesen hatte, dachte ich „geil, das passt total". Das hat einen gewissen Anspruch, schöne Ideen und moralische Vorstellungen, die unseren sehr entsprechen. Das Buch ist wirklich etwas komplett anderes und hat einen ganz feinen Humor, der super zu Julia als Autorin passt.« Das kann Julia Drache nur bestätigen: »Es ist eine ziemlich harte und traurige Geschichte aus der Sicht eines sehr optimistischen und pragmatischen Mädchens, das im Laufe der Zeit lernt "Nein" zu sagen. Eine wunderbare Mischung aus absurd nordisch-komischer Skurrilität und berührender Tiefgründigkeit.«
Der Kontrast zwischen Watu Wote und Pferd, Pferd, Tiger, Tiger könnte kaum extremer sein. Aber für Tobias Rosen zeigt sich ein roter Faden: »Die Stoffe für unsere Filme sollen eine gewisse Tiefe haben und das Publikum unter die Oberfläche schauen lassen. Beim Filmemachen kannst du sehr nah an Menschen und ihre Geschichten herankommen. Näher, als vielleicht im normalen Leben. Und wenn man unter die zweite oder vielleicht auch dritte Schicht guckt, dann berührt der Film. Das verbindet unsere Projekte.«
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