MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

Eine poetisch-chaotische Heilungsgeschichte

21.09.2024 | Nora Fingscheidts „The Outrun“ beim Filmfest Hamburg

Filmstill "The Outrun", eine Frau sitzt am Meer und guckt an der Kamera vorbei
Saoirse Ronan mit einer ihrer stärksten schauspielerischen Leistungen / Credits: The Outrun Ltd

Vor fünf Jahren trat die norddeutsche Regisseurin Nora Fingscheidt mit ihrem Drama „Systemsprenger“ ihren Siegeszug an. Nun ist die 41-Jährige mit einem MOIN-geförderten Film zurück: „The Outrun“ nach den Memoiren von Amy Liptrot. Die Hauptrolle spielt Saoirse Ronan. Es ist die Geschichte eines inneren Heilungsprozesses vor der rauen Kulisse der schottischen Orkney Inseln.

Von Britta Schmeis

Mediativ und zugleich bedrohlich, aber immer voller Magie taucht die Kamera unter die See der stürmischen schottischen Küste, fängt Seegräser und Algen ein, folgt langsam durch das Wasser schwimmende Seehunde und dann ist da diese Stimme aus dem Off. Sie erzählt von den ertrunkenen Seeleuten, die sich in Seehunde verwandeln. Nachts kommen sie an Land und tanzen nackt am Strand, bevor sie vor Tagesanbruch wieder ins Meer zurückkehren. Es ist eine dieser schottischen Mythologien, die sich durch Nora Fingscheidts von der MOIN Filmförderung unterstützten „The Outrun“ ziehen. Immer wieder findet sie dazu Analogien zu dem Leben ihrer Protagonistin Rona (Saoirse Ronan), ebenso wie zu der Natur, den stürmischen Winden, den Mächten des Meeres. Die unergründliche Natur wird zum Sinnbild von Ronas Innenleben, die nach zehn exzessiven Jahren in London samt Alkoholsucht in ihre Heimat, den Orkney Inseln, zurückgekehrt.

Porträt Nora Fingscheidt
Regisseurin Nora Fingscheidt

Assoziative Erzählweise

Die schottische Autorin und Journalistin Amy Liptrot hat diese Geschichte vor acht Jahren aufgeschrieben und veröffentlicht, es ist ihre Geschichte – in Tagebucheinträgen, fragmentarisch erzählt, voller Erinnerungen an die Kindheit mit ihrem bipolaren Vater, einer Mutter, die sich in den Glauben flüchtet, ihren Abstürzen in Londoner Clubs, die sich wiederholenden Versprechen an ihren Freund, endlich mit dem Trinken aufzuhören, um dann doch wieder abzustürzen, ihrem Scheitern, ihr Biologie-Studium weiterzuführen. „Ich hatte einen Riesen-Respekt, als mir die Produzentin Sarah Brocklehurst das Buch gab und habe mich gefragt, wie man das für einen Film adaptieren kann. Es spielt sich ja alles in Amys Kopf ab“, erzählt Nora Fingscheidt am Rande der 74. Berlinale.

Und so wählt sie ein nicht-lineares, assoziatives Erzählen, lässt Szenen, die zeitlich weit auseinanderliegen in einander fließen. „Mir war von Anfang an klar, dass es ein audio-visueller Film sein muss, der viel Poesie braucht, der chaotisch sein muss und dann seine Ruhe findet“, sagt die in Braunschweig geborene Regisseurin und Drehbuchautorin, die lange in Hamburg gelebt hat. Denn Amy, im Film heißt sie Rona, hatte von Anfang an ein vom Wahnsinn geprägtes Leben. Am Tag ihrer Geburt musste ihr Vater nach einer manischen Episode in ein Krankenhaus geflogen werden, als Mädchen muss sie mit ansehen, wie er glaubt, den Wind bezwingen zu können, irgendwann müssen Polizisten die kleine Familie vor ihm schützen, die Mutter trennt sich. Doch Rona fühlt sich auch noch als Erwachsene für ihn verantwortlich, dabei brodelt es in ihr ähnlich zerstörerisch wie in ihrem Vater. Rona flüchtet nach London und kehrt dann zehn Jahre später wieder zurück, nach zahllosen Abstürzen und einer Therapie, ihr fürsorglicher Freund (Paapa Essiedu) hat sie da längst verlassen.

Elektrobeats neben Meeresgetöse

Auf den einsamen Inseln und auf der Schaffarm ihrer Eltern sucht sie ihren Frieden. Fingscheidt wählt dafür immer wieder eindrückliche Bilder. Legt über den Sound des tosenden Meeres, der heftigen Winde, den dröhnenden Beat von Elektromusik, jener Musik, zu der sich Rona einst in die Bewusstlosigkeit soff. Nun begleiten sie sie bei ihrer Arbeit mit den Schafen, ihren Spaziergängen auf der Insel und irgendwann auch bei ihrer selbstgewählten Einsamkeit auf einer der kleinsten Orkney-Inseln, Papa Westry. Dort sucht sie für ein Naturschutzprogramm nach dem bedrohten Wachtelkönig.

 Von Anfang an war Saoirse Ronan für dies Rolle vorgesehen, Fingscheidt hat sie ihr zusammen mit Amy Liptrot auf den Leib geschrieben – und die amerikanische Schauspielerin, die 2007 mit „Abitte“ bekannt wurde und 2018 für ihre Rolle in „Lady Bird“ als beste Hauptdarstellerin den Golden Globe erhielt, füllt sie grandios aus, in ekstatischen Tripps, verzweifelten Ausbrüchen, nachdenklichen Momenten. Ihre Haare, mal blau, mal rot, mal wasserstoffblond und dann mit nur noch blauen Spitzen sind Orientierungspunkte für das Publikum, die es vielleicht nicht gebraucht hätte, zu der Figur aber unbedingt dazugehören.

 

Eine Figur immer am Abgrund

„Dass Rona trocken wird und den Frieden mit ihren Extremen findet, ausgerechnet an dem Ort, an dem sie nicht seien wollte, heißt nicht, dass sie jetzt ein braves Mädchen wird und einen Nine-to-Five-Job findet“, sagt Nora Fingscheidt. In der Buchvorlage heißt es einmal „The Edge is my home, the edge is where I come from” (Der Abgrund ist meine Heimat, der Abgrund ist dort, wo ich herkomme.). Für Nora Fingscheidt und ihr Team war das während der Dreharbeiten so etwas wie ein Mantra.

So gehört zu der Figur der Rona auch immer eine „Nerd-Ebene“, wie es Nora Fingscheidt nennt. „Rona beschäftigt sich nicht nur mit ihrer Sucht, sondern mit dem ganzen Universum, der Welt um sie herum, die Natur auseinander und was all das mit ihr macht.“

 „The Outrun“ ist kein Alkoholikerdrama, auch wenn die Sucht natürlich zu der Geschichte gehört, Nora Fingscheidt sie mit all ihren Auswirkungen in drastischen Szenen zeigt, die Saoirse Ronan schmerzhaft erfahrbar darstellt. Für die Regisseurin ist es die Geschichte eines inneren Heilungsprozesses – magisch, ekstatisch, poetisch und vor grandioser Kulisse, mit einer ebenso großartigen Hauptdarstellerin. Man taucht ein in diesen Film, wie die Seehunde, die sich durch die stürmische See treiben lassen.

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