MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

Überleben unter Palmen aus Stahl

17.09.2025 | UNHOME – Eine Virtual Reality Experience von GoBanyo

In Hamburgs Straßen ist Obdachlosigkeit allgegenwärtig: In der Bahn wird nach Kleingeld gefragt, am Straßenrand reihen sich Schlafsäcke entlang der Gebäude. Obwohl physisch sichtbar, gelingt es vielen Stadtbewohner*innen, diese Realität auszublenden und sich kognitiv zu distanzieren. Die VR-Experience UNHOME möchte das ändern, indem sie Nutzer*innen für zwanzig Minuten in die Perspektive obdachloser Menschen versetzt.

Von Sainabu Fye

„Waschen ist Würde“ – der Duschbus von GoBanyo

Seit 2019 macht die Hamburger Initiative GoBanyo mit dem Slogan „Waschen ist Würde“ auf sich aufmerksam. Sichtbar wird sie vor allem in Form eines ehemaligen Linienbusses, bunt bemalt und innen zu einem mobilen Badezimmer umgebaut. Hier können obdachlose Menschen kostenlos duschen. Einer der Gründer, Dominik Bloh, lebte elf Jahre auf Hamburgs Straßen und erlebte, wie stark Selbstwertgefühl von Hygiene abhängt. Der Duschbus ist für viele Bedürftige somit nicht nur physische, sondern auch mentale Stütze. Doch Obdachlosigkeit ist ein Thema, das auch die erreichen muss, die selbst nie im Duschbus stehen:

„Um gesellschaftlich gut mit der Herausforderung Obdach- und Wohnungslosigkeit umgehen zu können, braucht es Verständnis und Nachvollziehbarkeit“, sagt Chris Poelmann, Mitbegründer von GoBanyo.

Perspektivwechsel durch VR

Mithilfe der virtuellen Realität möchte GoBanyo genau dorthin vordringen, wo Obdachlosigkeit oft unsichtbar bleibt: ins Bewusstsein der Gesellschaft. Zusammen mit der Curious Company, einer Hamburger Produktionsfirma für immersive Medien, entstand so das Projekt „UNHOME – Überleben auf der Straße“.

Die VR-Brille ermöglicht einen unmittelbaren Perspektivwechsel: Nutzer*innen erleben den Alltag eines Obdachlosen aus erster Hand: „Ich sitze selber in meiner Wohnung, die ich aus Gründen verliere. Ich muss selber auf der Straße nach Geld fragen oder mich um Nahrung kümmern. Und lerne vielleicht auch, warum es gar nicht so einfach ist, dann wieder aus der Obdachlosigkeit herauszukommen.“

Filmausschnitt: Aus der Perspektive des Protagonisten sitzt man im Wohnzimmer und sieht eine Couch, einen Fernseher, eine Gitarre.
Die Wohnung des Protagonisten.

Die Erfahrung beginnt in der eigenen Wohnung, in der noch alles in Ordnung scheint. Dann verändert sich alles: Jobverlust, unbezahlbare Miete, kein Geld – plötzlich gibt es kein Zuhause mehr. Und obwohl du mit dem Controller deine virtuelle Hand ausstrecken, greifen und Entscheidungen treffen kannst, bist du doch machtlos und dem weiteren Verlauf deines Schicksals hilflos ausgeliefert.

Realitätsnahe Umsetzung

Erfahrungen zu visualisieren ist schon eine Herausforderung an sich – die einer marginalisierten Gruppe, die kaum eine Stimme in der Öffentlichkeit hat, umso mehr. Für GoBanyo bedeutete das eine intensive Recherche- und Konzeptionsphase, in der ein wertschätzender Umgang mit den Menschen auf der Straße an erster Stelle stand. Dominik Bloh brachte Erfahrungen aus erster Hand ein, zudem flossen Eindrücke von Duschgästen sowie der Austausch mit Sozialarbeitenden und Streetworkern ein. Poelmann vergleicht die Herangehensweise gerne mit einem Kaffeefilter „ wo alle Erfahrungen reingekommen sind. Und die Essenz daraus ist das, was in der VR gezeigt wird: eine exemplarische Geschichte, die zeigt, wie Menschen auf der Straße landen und welche Herausforderungen sie bewältigen müssen.“

Die Recherchearbeit hat sich gelohnt. Poelmann erklärt, dass die Experience Duschgästen gezeigt und Feedback eingeholt wurde. „Und auch da wurde uns gespiegelt, dass das sehr nah an der Realität ist.“

Realitätsnah sind auch die Schauplätze von UNHOME. Ob Park Fiction, Sternbrücke oder die S1 Richtung Wedel: die VR-Erfahrung verortet Obdachlosigkeit an Orten, die Hamburger*innen kennen.

Eine besondere technische Herausforderung lag in der Hardware: Die VR-Erfahrung läuft auf der Meta Quest, deren Prozessor etwa so leistungsfähig ist wie der eines Smartphones. Deshalb musste bei jeder Szene abgewogen werden, wie viel Detail möglich ist – und das ohne zusätzliche Computer, um das Projekt möglichst flexibel einsetzbar zu machen.

UNHOME im Bildungsbereich

Neben der direkten Vermittlung von Erfahrungen rund um Obdachlosigkeit eröffnet UNHOME auch neue Perspektiven für den Bildungsbereich. Jugendliche können die VR-Experience nicht einfach nur anschauen oder darüber lesen, sondern sie erleben die Situation selbst. Durch die Brille sind sie hyperfokussiert auf das Geschehen, Ablenkungen von außen entfallen, und der emotionale Zugang erleichtert das Verstehen der Thematik.

Szene aus dem Film: Ein Straßenhund schaut zu dem Protagonisten hinauf. Im Hintergrund liegt Müll und es ist dunkle.
Der treue Begleiter des Protagonisten: Ein Straßenhund.

Poelmann sieht darin ein enormes Potenzial: Ähnlich wie bei UNHOME können VR-Erfahrungen auch für andere gesellschaftliche oder berufliche Themen entwickelt werden: vom Alltag einer Erzieherin oder eines Erziehers in einer Kindergartengruppe bis zu Situationen in der Pflege. Virtual Reality, so ist sich Poelmann sicher, kann so zu einem mächtigen Werkzeug werden, um Lernen über Emotionen zu ermöglichen und den Zugang zu komplexen Themen zu erleichtern.

GoBanyo nutzt dieses Potenzial bereits aktiv: Gemeinsam mit dem Landesinstitut für Qualifizierung und Qualitätsentwicklung in Schulen wurde ein 90-minütiger Workshop für Schulen und Bildungsträger entwickelt. Die wissenschaftliche Begleitung übernahm Prof. Dr. Tim Middendorf von der Hochschule Bielefeld (Fachbereich Sozialwesen). In einer qualitativen Studie untersuchte er, wie die Teilnehmenden die VR-Erfahrung wahrnehmen und welche Wirkung sie auf ihr Verständnis von Obdachlosigkeit hat.

Die Ergebnisse der Untersuchung mit über 100 Teilnehmenden im Alter von 15 bis 56 Jahren zeigen: Die Nutzer*innen entwickeln ein vertieftes Verständnis für die komplexen Lebensrealitäten obdachloser Menschen und reflektieren zugleich eigene Haltungen und Handlungsmöglichkeiten.

Weitere Informationen zu GoBanyo gibt es hier.
Informationen und Lernmaterialien zu UNHOME gibt es hier.

Beitrag teilen
  • Auf facebook teilen
  • Auf x teilen
  • Auf linkedin teilen