Digitales Flimmern im Norden
21.06.2021 | Filmstreaming-Kanäle sind bei vielen Kinos längst gängige Praxis
Das Jahr der Corona-Pandemie hat für die digitalen Filmstreams wie ein Beschleuniger gewirkt. Große Hollywood-Studios werten ihre Kinofilme parallel auch auf Streaming-Plattformen aus – die Kinoexklusivität gerät dadurch ins Wanken. Viele norddeutsche Kinobetreiber *innen begreifen die Möglichkeit, ihr Profil auch im Netz zu zeigen, längst als Chance und Kundenbindungs-Instrument.
Ein großer Kinoverbund mittelständischer Filmtheater wie die Cineplex-Gruppe, in Schleswig-Holstein an den Standorten Neumünster und Elmshorn vertreten, hat sich mit Cineplex Home einen eigenen Streaming-Arm zugelegt. Und auch das ambitionierte Hamburger Metropolis Kino leistet sich für seine Kinemathek-Programme einen hauseigenen Streaming-Kanal, um auch während der Corona-Schließung seine filmhistorischen Schätze zugänglich zu machen. Zahlreiche Hamburger und Schleswig-Holsteiner Kinos präsentieren auf ihren Websites längst ihr Programmprofil auch mit einem VoD-Angebot, das sie über Partnerschaften mit den Plattformen Pantaflix oder Kino On Demand.de der Kölner Rushmedia AG offerieren können.
Der Geschäftsführer der MOIN Filmförderung Helge Albers erklärte gegenüber der Fachpresse: „Ich bin davon überzeugt, dass sich das Kino zukünftig ganz selbstbewusst auch als Player im digitalen Raum verstehen sollte. Die Zuschauer werden nach der Krise mit einer größeren Selbstverständlichkeit als vorher im digitalen Raum unterwegs sein. Ich denke nicht, dass diese Entwicklung das Ökosystem des Kinomarktes grundsätzlich in Frage stellt, sondern sehe vielmehr Chancen im Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen, die dem Kinomarkt bevorstehen."
Bereits seit vier Jahren bietet der Kinobetreiber Martin Turowski mit seinen Kinos in Ratzeburg und Mölln ein On Demand-Angebot mit aktuellen Kinofilmen, die nicht mehr in seinen Häusern im Einsatz sind. Ebenso wie Turowski besitzen zahlreiche andere Kinos in Hamburg und Schleswig-Holstein ein digitales Streaming-Fenster, das sie über die Partnerschaft mit dem Kölner Plattformanbieter Kino on Demand öffnen können. Ein regulärer Filmabruf für 48 Stunden kostet 4,99 Euro, nach der ersten wie nach jeder fünften Filmausleihe erhalten die Nutzer*innen einen Kinogutschein in Höhe von 5 Euro. Martin Turowski, der zudem im Vorstand der neu gegründeten Interessengemeinschaft Kinoverbund Schleswig-Holstein ist, war zwar zunächst skeptisch, „weil ich nicht überzeugt bin, dass es ein Geschäftsmodell für das Kino ist", doch sieht er eine Chance darin, wenn die Filmtheater die digitalen Filmkanäle mitgestalten. Aus dem Filmpool von Kino On Demand wählt er die Filme nach den gleichen Qualitätskriterien wie bei seinem Kinoprogramm aus: „Die Kinobesucher*innen kennen unsere Programmqualität und vertrauen mir, wenn ich für den Streamingservice einen Film aussuche." Turowskis Wunsch ist es, gemeinsam mit den anderen kleinen mittelständischen Kinos einen eigenen Film-Kanal auf die Beine zu stellen und es selbst eigenständig zu gestalten.
Auch das Abaton Kino aus dem Hamburger Univiertel hat an Pfingsten einen eigenen Streamingkanal mit kuratierten Qualitätsfilmen gestartet. Maßstab für den Geschäftsführer und Programmmacher des Kinos Felix Grassmann ist der gleiche Anspruch wie beim Kinoprogramm und eine sorgfältige redaktionelle Aufbereitung der Filme, die per Stream ausgeliehen werden können. „Viele Kinogänger*innen und Filmfans haben inzwischen ein oder zwei Streamingabos abgeschlossen, tun sich aber schwer aus dem immensen Angebot der großen Anbieter wie Netflix, Disney+ und Amazon den passenden Film für sich zu finden. Das ist die Lücke, in die wir stoßen, weil unsere Kund*innen wissen, für welches Filmangebot das Abaton steht", so Felix Grassmann. In Kooperation mit Pantaflix präsentiert das Abaton jede Woche fünf neue Filme zum Streamen, die dann sechs Wochen lang über die Abaton-Website abgerufen werden können. So erwächst ein überschaubarer Pool von rund 30 Filmen, bis nach sechs Wochen die ersten fünf Filme wieder herausfallen. Eine Ausleihe für 48 Stunden kostet 3,99 Euro. Als nächsten Schritt denkt Grassmann daran, sich nicht nur der Filme des Partners Pantaflix zu bedienen, sondern auch selbst Filme zu suchen und digital vorzustellen.
In der langen Phase der Kinoschließungen durch COVID 19 haben viele Verleiher ihre angekündigten Kinostarts bis zur erwarteten Wiedereröffnung der Filmtheater zurück gehalten, einige Verleihfirmen haben sich für eine Streaming-Auswertung entschieden. Mit der vor gut einem Jahr gegründeten Plattform CVOD.de hat der Produzent und Verleiher Jan Krüger (Port au Prince) einen digitalen Dienst auf den Weg gebracht, um aktuelle Kinofilme, die wegen der geschlossenen Filmtheater nicht starten können, als zeitlich begrenzte VoD-Streams auszuwerten und die Filmtheater an den Einnahmen zu beteiligen. Mit dem preisgekrönten Film „Systemsprenger" sowie Milo Raus „Das Neue Evangelium" hat Krüger über CVOD.de zwei zeitlich begrenze Online-Events im virtuellen Kinoraum veranstaltet und die Kinos beteiligt. Bei den in Partnerschaft mit Pantaflix als digitale Kinoevents befristeten Auswertungen konnte der Kunde beim Ticketkauf auswählen, welches Kino er unterstützen möchte. Über 100 Kinos beteiligten sich deutschlandweit, allein aus Hamburg waren 15 Kinos dabei. Krüger hat in der Branche teils heftige Reaktionen erfahren, weil er CVOD nicht nur als Pandemie-Aktion sieht, um seine Filme zeitnah im digitalen Raum auswerten zu können, sondern über die Krise hinaus eine Partnerschaft zwischen Streaming und Kinostarts für erstrebenswert hält. In der deutschen Branche stößt er auf wenig Gegenliebe bisher. Deshalb ist er seit drei Monaten mit CVOD stärker in der Schweiz unterwegs. Als die Kinos dort wieder öffnen durften, hat der Film „Das neue Evangelium" in den Kinos 4000 Besucher in der ersten Woche erreicht; über eine zeitlich begrenzte On Demand-Auswertung wurden nochmal sechstausend Tickets über die Kinos eingelöst, die mit 30 Prozent am Einspiel beteiligt werden. Mit dem dortigen Verleiher Vinca Film in Zürich bringt Krüger aktuell auch den Dokumentarfilm „Football inside" von Michel Cirigliano parallel im Kino und als 24-Stunden-Stream heraus.
Krüger hat Verständnis, dass sich die Kinos ohne ihre Auswertungsexklusivität bedroht sehen, er fordert die Branche aber auf, experimentierfreudiger und flexibler zu werden. Wenn durch die zahlreichen Filmstarts in den Kinos die Filme nicht mehr richtig ausgewertet werden könnten, biete der Stream die Möglichkeit, dass Filmfans den Film zu Hause sehen könnten. Für Jan Krüger besteht kein Zweifel, dass bestimmte Filme für ein exklusives Zeitfenster ins Kino müssen. Er ist jedoch davon überzeugt, dass es sich fruchtbar für den Kinomarkt auswirken wird, wenn bei ausgewählten Filmen die digitale Auswertung und der Kinostart enger zusammenrücken. Das habe die Auswertung des Films „Das neue Evangelium" recht eindrucksvoll gezeigt.
Sehr erfolgreich nach gleichem Modell hat auch der in Hamburg neu gegründete Verleih Notsold von Henriette Ahrens und Ole Hellwig seinen Dokumentarfilm „100.000 – Alles was ich nie wollte" über den YouTube Star und Musiker Fynn Kliemann, der ursprünglich in 200 Kinos starten sollte, in den virtuellen Raum verlegt. Auch hier konnten die Zuschauer ihr Ticket über ihr Lieblingskino buchen. Der junge Verleih Notsold ist mit dem erklärten Ziel gestartet, mit innovativen Konzepten Kinoevents zu gestalten und alternativen Content an jüngere Zielgruppen zu bringen.
Für Felix Grassmann eröffnet der eigene digitale Streamingkanal ein weiteres Feld, um die cineastische Kompetenz unter Beweis zu stellen – und er wertet es als eine Kundenbindungsmaßnahme im digitalen Raum. Parallele Auswertungen von Kinostarts und Streaming sieht er dagegen kritisch. Die Exklusivität bleibe unverzichtbar, um das Kinoerlebnis zu schützen. Was die Streaming-Kanäle von Filmtheatern angeht, empfiehlt er zudem, die gleichen Qualitätskriterien anzulegen wie bei dem Kinoprogramm. Der Streaming-Service der Kinos dürfe nicht zum Überlauf-Ventil für alle die Filme werden, die nicht im Kino unterkommen. „Das wird nicht funktionieren", so Grassmann.
Martin Turowski ist skeptisch, ob die Kinoexklusivität nachhaltig fest verankert bleibt. Und deshalb dürften sich die Kinos nicht zu sehr auf eine exklusive Auswertung verlassen, fügt er nachdenklich hinzu: „Wir sollten viel mehr mit Selbstbewusstsein den Erlebnisort Kino in den Vordergrund stellen und davon wegkommen, dass die Besucher nur wegen der Filme ins Kino gehen. Dieser Diskussion müssen wir uns stellen."