
"Mehr denn je" von Emily Atef
21.04.2022 | Kinostart

Mit dem Romy Schneider-Drama „3 Tage in Quiberon" gewann Regisseurin und Autorin Emily Atef im Jahr 2018 mehr deutsche Filmpreise als jeder andere Film. Ihr neuer Kinofilm „More Than Ever" feierte jetzt rund vier Jahre später seine Premiere in der Sektion Un Certain Regard in Cannes und startet jetz in den deutschen Kinos. Wir haben mit Atef und ihrer Produzentin Nicole Gerhards über die schwierigen Dreharbeiten während der Corona-Pandemie, ihr starkes Schauspieler*innen-Ensemble und die Postproduktion in Hamburg gesprochen.
Als Emily Atef Ende der 90er mit einem Motorrad und einem Freund das erste Mal durch Norwegen reiste, ahnte sie noch nicht, dass ihre Arbeit sie rund 20 Jahre später wieder hierhin zurückbringen würde: In ihrem neuen Film „More Than Ever" geht es um eine junge Frau, die aus der Großstadt flieht und in der Natur Norwegens den Platz für ihre letzte Reise findet. Eine Liebesgeschichte, ein emotionales Drama über das Ende des Lebens– und eine Verneigung vor der Landschaft Norwegens.
Mit „More Than Ever" wird die Regisseurin und Autorin das erste Mal seit 2018 wieder auf der großen Leinwand zu sehen sein. Dabei ist die Idee zum Film alles andere als neu: „Die ersten Gedanken entstanden im Jahr 2010. Zu dieser Zeit geriet die Finanzierung eines anderen Films von mir gerade ins Stocken und ich war ziemlich frustriert. Gemeinsam mit einem guten Freund, Musikproduzent Manfred Eicher, dachte ich darüber nach, eine Geschichte in Norwegen spielen zu lassen. Er hatte dort oft Musik produziert – und mich hat das Land durch mehrere Reisen sehr geprägt", sagt Emily Atef. Und so entstand Stück für Stück die Geschichte zu „More Than Ever". Das eigentliche Drehbuch schrieb Atef dann gemeinsam mit Lars Hubrich (u.a. Tschick).
Worum geht's? Hélène ist Mitte Dreißig, lebt in Bordeaux und leidet an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Im Internet stößt sie auf den norwegischen Blogger „Mister", der ebenfalls schwer krank ist, seine Situation aber mit viel Humor und Scharfsinn im Netz dokumentiert. Ihm gegenüber kann Hélène sich öffnen. Auf der Suche nach Ruhe und Klarheit reist sie zunächst ohne ihren Ehemann Matthieu nach Norwegen.


Die Finanzierung des Films dauerte rund zehn Jahre. Als deutsche Koproduzentin kam während dieser Zeit die Berlinerin Nicole Gerhards mit ihrer Firma NiKo Film an Bord. „Emily und ich hatten bereits in der Vergangenheit bei zwei anderen Projekten zusammengearbeitet. Und die Geschichte von More Than Ever hat mich sofort gefesselt. Ich glaube, das Thema 'Selbstbestimmung im Angesicht des Todes' treibt alle von uns ab einem gewissen Zeitpunkt um", so Gerhards.
Als die Dreharbeiten im Sommer 2020 dann endlich starten konnten, machte Corona der Filmcrew einen Strich durch die Rechnung. Auch ein Aufschub auf Herbst 2020 brachte keine Besserung und der Dreh musste erneut verschoben werden. „Schlussendlich drehten wir von April bis Juni 2021. Es war wirklich eine große Herausforderung zu dieser Zeit einen Film zu machen. Gerade in Norwegen waren die Corona-Auflagen extrem streng. Wie durften nur mit sieben Leuten aus unserem Team einreisen – und für jedes Teammitglied mussten wir ein eigenes Motivationsschreiben für die Behörden verfassen", erinnert Atef sich an die Strapazen zurück. Die Hamburger Szenenbildnerin Silke Fischer musste ihre Arbeit beispielsweise aus Hamburg mit norwegischen Kolleg*innen vor Ort koordinieren. Ein aberwitziges Unterfangen, für das es zu diesem Zeitpunkt jedoch keine andere Lösung gab. Bevor das Team sich in Norwegen frei bewegen durfte, mussten alle Mitglieder für sieben Tage in Quarantäne. „Wir haben das beste aus der Situation gemacht. Es war eigentlich wie ein kleiner Urlaub während der Dreharbeiten", sagt die Regisseurin und lacht.

Große Sorgen machte Emily Atef sich um die Verfügbarkeit ihrer Schauspieler*innen, nachdem die Dreharbeiten zweimal verschoben werden mussten. Mit Vicky Krieps, Gaspard Ulliel und Björn Floberg hat Atef ihr Drama mit international gefragten Darsteller*innen besetzt, die einen Großteil ihrer Zeit ausgebucht sind. Doch alle wollten beim Projekt unbedingt dabei sein – und blieben ihr auch im Jahr 2021 treu. Hélène, die aus Bordeaux nach Norwegen geht, wird von der gebürtigen Luxemburgerin Vicky Krieps gespielt, die heute in Berlin lebt. „Wir sind quasi Nachbarn und unsere Töchter sind befreundet und gehen in die gleiche Kita. Vicky hatte bereits eine Cameo-Rolle in '3 Tage in Quiberon' und ich wollte sie unbedingt als Hauptdarstellerin in meinem neuen Film", verrät Atef. Die Idee pitchte sie Vicky Krieps in einem Berliner Café unweit ihrer Wohnung im Jahr 2018 – und ohne das Drehbuch überhaupt gelesen zu haben, sagte Krieps direkt zu. Bei den Dreharbeiten zeigte sich sehr schnell, dass sie die richtige Wahl war: „Vicky spielt nicht, sie IST ihrer Rolle. Ich hätte eigentlich in Szenen, in denen die Kamera auf einen ihrer Kollegen gerichtet ist, immer noch eine zweite Kamera haben müssen – um ihre Reaktionen einzufangen. Es gab viele tolle Momente", sagt Atef.
Nachdem der Film längst abgedreht war und sich in der Postproduktion befand, erreichte das Team eine tragische Nachricht: Hauptdarsteller Gaspard Ulliel, der im Film Hélènes Ehemann Mathieu spielt, war bei einem Sturz beim Skifahren tödlich verunglückt. „Wir waren am Boden zerstört und konnten es einfach nicht fassen. Die Nachricht war schlimm für uns, zumal wir ihn beim Schneiden des Films täglich vor uns so lebendig sahen", sagt Atef. Ulliel war in Frankreich bereits ein großer Filmstar und auch Hollywood war durch Filme wie „Hannibal Rising" oder zuletzt die Marvel-Serie „Moon Knight" auf ihn aufmerksam geworden. „More Than Ever" wird sein letzter Spielfilm sein.

Auch wenn der Schock weiterhin tief saß, ging es Ende Februar nach Hamburg für's Color Grading. Knapp eine Woche lang arbeitete das Team um Emily Atef, Kameramann Yves Cape und Color Grader Richard Deusy bei Harvest Digital Agriculture in der Speicherstadt an dem Film. Eines der Ziele war es, den Unterschied zwischen Hélènes Zeit in Bordeaux und Norwegen farblich herauszuarbeiten. In der Stadt fühlt sie sich unwohl und klaustrophobisch, in Norwegen blüht sie trotz ihrer Krankheit nochmal auf. Wie genau sich dieser Gegensatz später in den Farben des Films niederschlägt, wird der fertige Kinofilm zeigen.

Wird „More Than Ever" also ein trauriger Film über das Lebensende einer jungen Frau? „Eine von Emilys Qualitäten ist es, dass ihre Filme die Zuschauer*innen trotz ernster Themen nicht hoffnungslos zurücklassen. Und „More Than Ever" erzählt vorrangig eine starke Liebesgeschichte, die durch die schauspielerische Leistung von Vicky und Gaspard gegenüber dem bereits vielversprechenden Drehbuch noch einmal zusätzlich an Kraft gewonnen hat", sagt Produzentin Nicole Gerhards. Und Emily Atef ergänzt: „Es ist ein Film geworden, mit dem bestimmt auch Gaspard glücklich gewesen wäre."
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