MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

„Filmemachen heißt, ein Risiko einzugehen“

17.02.2023 | „Das Lehrerzimmer“ auf der Berlinale

Hauptdarstellerin Leonie Benesch und Regisseur Ilker Catak bei den Dreharbeiten in Hamburg

Schule ist ein hochexplosives Thema, nicht nur bei Eltern schulpflichtiger Kinder. Über den Mikrokosmos Lehrerzimmer und Schule im weitesten Sinne hat İlker Çatak einen Film gedreht. Der preisgekrönte Regisseur, der einst seinen Master an der Hamburg Media School machte, sieht Schule als einen Spiegel unserer Gesellschaft. Vor der Weltpremiere des von MOIN geförderten Dramas am 18. Februar auf der Berlinale haben wir mit İlker über seinen Film gesprochen.

Wie sind Deine Erinnerungen an Deine Schulzeit?

İlker Çatak: Ganz positiv eigentlich, ich war immer gut in der Schule, bis ich in die Pubertät kam. Das war dann schon in Istanbul. Aber ich habe sowohl an meine deutsche, als auch an meine türkische Schulzeit positive Erinnerungen.

Die junge Lehrerin Carla kommt an ihre Grenzen

Was hat Dich zu dem „Lehrerzimmer" inspiriert?

İlker Çatak: Mit Johannes Duncker, mit dem ich in Istanbul zur Schule gegangen bin und jetzt auch das Drehbuch geschrieben habe, sind wir auf das Thema gekommen. Wir haben uns an eine Szene aus unserer eigenen Schulzeit erinnert, die sich auch in dem Film wiederfindet, als es um Diebstahl und das anschließende Filzen der Schüler geht. Da kamen drei Lehrkräfte rein, baten die Mädels raus und die Jungens wurden gefilzt. In der Recherche sagte man uns, dass so ein Vorgehen heute nicht mehr möglich sei. Außer, wenn es unter dem freiwilligen Aspekt geschieht. Das ist ja das Perfide, dass die Schulleiterin im Film sagt, es ist freiwillig und wer nichts zu verbergen hat, müsse sich auch keine Sorgen machen. Dieses perfide Spiel der Hierarchien hat uns gereizt.

Regisseur Ilker Catak hat seinen Master an der Hamburg Media School gemacht

Welches Spiel der Hierarchien?

İlker Çatak: Schule ist ein tolles Modell, um Gesellschaft abzubilden. Du hast ein Staatsoberhaupt, Du hast Lehrerin*innen mit Macht, Du hast mit der Schülerzeitung ein Presseorgan, also ganz viele Elemente, die unsere Gesellschaft ausmachen. Und als wir dann so philosophiert haben, auch dass jede Gesellschaft einen Sündenbock braucht, hat sich die Geschichte geformt.

Bewusste Entscheidung: Keine*r der Schüler*innen hat eine Hintergrundgeschichte

Wo ist denn Schule sonst noch Abbild aktueller Entwicklungen?

İlker Çatak: Zumindest in der von uns dargestellten Schule ist auffällig, auf welche Weise jeder und jede die Wahrheit für sich in Anspruch nimmt. Wie alle Recht haben wollen. Aber auch, wie Wahrheit verdreht wird, Stichwort Fake News, Cancel Culture, eine empörte Jugend.

Der Cast ist extrem divers. Es gibt ein Mädchen mit Kopftuch und viele Kinder mit Migrationshintergrund. Auch das ein Spiegel unserer Gesellschaft?

İlker Çatak: Ich wollte, dass die Klasse eine bunte Mischung ist. Und bei dem Mädchen mit Kopftuch wollte ich, dass sie perfektes Deutsch spricht und sich in der Schülerzeitung als Journalistin engagiert. Weil man diese Mädchen ja sonst eher in Opferrollen sieht. Aber auch Figuren wie Ali, der schnell des Diebstahls bezichtigt wird. Da spielt natürlich auch viel meiner eigenen Identitätsfindung als Kind türkischer Eltern rein.

Das Kollegium ist überwiegend weiß, mit einer Ausnahme. Warum diese Figur?

İlker Çatak: Weil sie eine der Absurditäten des aktuellen Diskurses deutlich macht. Die einzige Person-of-colour, die ganz sicher selbst schon Rassismus erfahren hat, wird plötzlich des Rassismus beschuldigt. Das spiegelt eine Debatte wider, die manchmal völlig durcheinandergerät. Das war auch der Gedanke, als wir das Buch geschrieben haben: Vom Chaos unserer Zeiten zu erzählen.

Leonie Bensch und Ilker Catak

Im Verlauf des Films wird es zunehmend schwieriger, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, wer gut oder böse?

İlker Çatak: Genau das macht für mich eine gute Geschichte aus. Geschichten, die das Gute bejubeln, das Böse verteufeln, haben wir schon viel zu viel. Ich finde, wir brauchen Geschichten, die ambivalent sind und nicht die Wahrheit für sich beanspruchen.

Der Film konzentriert sich einzig und allein auf die Schule, keine Figur ist außerhalb zu sehen oder hat eine Hintergrundgeschichte. Warum?

İlker Çatak: Das wäre nur Deko. Mir ist es wurscht, welche Farbe die Wände in der Wohnung der Figuren haben, ob sie Haustiere haben und wie sie zur Arbeit kommen. Der wahre Charakter einer Person offenbart sich in schwierigen Entscheidungsmomenten. Dann, wenn etwas auf dem Spiel steht. Darum geht es für mich auch beim Filmemachen, nämlich ein Risiko einzugehen, das Risiko, etwas Neues zu probieren, und auch das Risiko, damit zu scheitern.

Dreharbeiten in einer stillgelegten Berufsschule in der City Nord in Hamburg

Leonie Benesch, der diesjährige Shooting Star, spielt die die engagierte Lehrerin Carla, die alles in ihrer Macht Stehende tut, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Wie bist Du auf sie gestoßen?

İlker Çatak: Ich wollte schon mit Leonie arbeiten, seit ich sie zum ersten Mal im „Weißen Band" gesehen habe. Egal in welcher Rolle, ob in „Babylon Berlin" oder in Fernsehfilmen, sie hat immer eine extreme Wahrhaftigkeit in ihrem Spiel.

Der Film ist ausschließlich in Hamburg gedreht. Wo genau?

İlker Çatak: Von den 27 Tagen waren wir einige am Albert Schweizer Gymnasium in Klein Borstel, hauptsächlich haben wir aber in einer stillgelegten Berufsschule in der City Nord gedreht. Die haben wir zum Leben erweckt, das war toll.

Du hast Dein Masterstudiengang an der Hamburg Media School absolviert. Was macht für Dich die Filmstadt Hamburg aus?

İlker Çatak: Insgesamt habe ich bestimmt fünf Jahre in Hamburg gelebt, weil ich schon drei andere Filme in Hamburg gedreht habe und dann mindestens jeweils ein halbes Jahr hier war. Hamburg ist einfach großartig, so divers auch was die Locations angeht. Es gibt hier einfach wahnsinnig viele unterschiedliche Welten – vom Punk bis Schnösel gibt´s hier alles und es lebt friedlich nebeneinander. Die Menschen, die Atmosphäre, ist extrem produktiv, vielleicht weil es eine Handelsstadt ist. Ich finde das immer wieder sehr inspirierend, weil sich diese Produktivität von Anfang an auf mich übertragen hat. Und dann ist da noch durch das Wasser, die Werften und den Hafen die Ähnlichkeit zu Istanbul. Ich liebe Hamburg.

Credits: Alamode/Boris Laewen
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