MOIN Filmförderung Hamburg Schlwesig-Holstein

Das kollektive Gedächtnis einer queeren Generation

09.08.2023 | MOIN-gefördertes VR-Projekt in Venedig

Produziert wurde "Queer Utopia" vom Mundivagante Studio mit Sitz in Brasilien und Portugal

Von 0 auf 100 in gerade einmal drei Jahren: Mit seinem VR-Projekt „Queer Utopia" war der portugiesisch-brasilianische VR-Künstler und Filmemacher Lui Avallos dieses Jahre bei Venice Immersive im Rahmen der 80. Biennale in Venedig zu sehen. Dabei hatte er bis zur Corona Pandemie mit VR und XR kaum etwas am Hut. Im Interview verrät er, was seitdem passiert ist und was sein aktuelles Projekt so besonders macht.

Wie bist du mit der VR/XR-Technologie in Berührung gekommen?

Lui Avallos: Für mich war die Pandemie der große Treiber. Ich war von Brasilien gerade nach Lissabon gezogen für meinen Master. Und als man dann kaum noch Dinge unternehmen konnte, habe ich nach etwas Neuem gesucht, das ich lernen und mit dem ich mir die Zeit vertreiben kann. Es sollte etwas Komplexes, Technologisches sein. Aber ich war natürlich vorher schon an VR interessiert. Ich habe in Brasilien „Image and Sound" studiert und auch bereits Filme gemacht. Und während meiner VR-Lernphase entwickelte ich das Projekt „Handwritten", in dem es um die Pandemie und deren Auswirkungen auf das soziale Leben geht. Über das Projekt bin ich dann auch mit der VR-Community in Berührung gekommen.

 

Gibt es in Brasilien und Portugal eine große VR-Szene?

Lui Avallos: In Portugal gibt es keine große VR-Szene. Wir versuchen also in gewisser Weise auch etwas Pionierarbeit zu leisten und die VR-Technologie in die Kunstszene zu tragen.

In meinem Heimatland Brasilien hingegen gibt es tatsächlich viele Menschen, die sich mit VR beschäftigen. Bei der Biennale in Venedig waren brasilianische Künstler schon mehrfach erfolgreich. Momentan pendle ich zwischen beiden Ländern und werde Ende des Jahres erstmal für eine gewisse Zeit zurück in meine Heimat gehen. Wir machen dort ein Virtual Reality Museum für die Yawanawá, ein indigenes Volk aus dem Amazonas-Gebiet. Portugal und Brasilien beeinflussen beide meine Arbeit.

VR-Künstler und Filmemacher Lui Avallos wurde 1992 in Brasilien geboren

Wie kommt es, dass dein erstes VR-Projekt „Handwritten" beim Dok Leipzig gezeigt wurde?

Lui Avallos: Ich habe mich einfach blind bei einigen Festivals beworben. Ich war mir sehr unsicher, ob ich damit eine Chance habe. Denn „Handwritten" ist ein Essay-Film mit 360-Grad Material und sehr experimentell. DOK Leipzig ist ein tolles Festival – und die Xr-Sektion ist eine der spannendsten, die es momentan da draußen gibt. All das passierte im Oktober 2021 während der Pandemie. Es war also schon etwas komisch, mit mehreren Menschen in einem Raum zu sein, die alle VR-Headsets trugen. Für mich war es das erste Festival, an dem ich mit einer meiner Arbeiten teilgenommen habe.

"Handwritten" feierte seine Premiere beim DOK Leipzig

Wie bist du auf die Idee zu „Queer Utopia" gekommen und was war die größte Herausforderung während der Entwicklung?

Lui Avallos: Die erste Inspiration zum Projekt kam durch die Fotos des amerikanischen Fotografen Alvin Baltrop. Er hat in den 70er und 80er Jahren viel in den „Cruising Areas" am Hudson River in New York fotografiert – also an den abgelegen und auch gefährlichen Orten, wo queere Männer sich für anonymen Sex getroffen haben. Es wurde aber auch ein avantgardistischer Platz für Künstler. Die Risse in den Fassaden der Häuser auf seinen Fotos repräsentieren in gewisser Weise auch die Risse, die durch die Gesellschaft gegangen sind. Und all das wollte ich nehmen und in eine VR-Welt packen. Denn VR erlaubt ein immersives Gefühl. Zuerst sollte es gar kein interaktives Stück werden, sondern ein sehr essayistisches Video. Das erste Treatment wurde für das Biennale College in Venedig ausgewählt. Die Residency ist sehr intensiv und auch marktorientiert – mit Expert*innen aus ganz verschiedenen Genres. Da habe ich verstanden, dass ich vielleicht zu nischig denke. Ich hatte ein spezielles Thema – nicht alle nicht-queeren Menschen können mit „Cruising" etwas anfangen. Dann kam langsam der Generationen-Aspekt hinzu.

Die User begeben sich in Queer Utopia in dunkle und gefährliche Ecken am Hudson River im New York der 70er und 80er

In welche Richtung hat sich das Projekt dann entwickelt?

Lui Avallos: Wir fingen an, queere Männer über 60 über ihre Erfahrungen mit „Cruising" zu interviewen. Hier hat sich der Fokus mit der Zeit dann etwas verschoben. Ich war weniger interessiert am Cruising, sondern mehr an den Menschen und ihren persönlichen Geschichten über die damalige Zeit. Denn das war die Generation, die für die Rechte der queeren Menschen gekämpft hat. Und sie werden uns bald verlassen. Es wird eine Generationen-Gap geben zwischen meiner queeren Generation und der queeren Generation der Menschen, die damals gelebt haben. Das Thema „Cruising" war also nur der Einstieg für eine viel größere Story, die dann auch ein breiteres Publikum anspricht. Der Hauptcharakter Gabriel repräsentiert das kollektive Gedächtnis dieser Generation.

"Queer Utopia: Act I Cruising" wird wahrscheinlich nur der erste Teil einer ganzen Reihe

War es schwer Männer zu finden, die euch ihre Geschichte erzählen wollten?

Lui Avallos: Es war nicht schwer diese Menschen zu finden. Ich habe mit Freunden gesprochen, und die haben dann wiederum Freunde gefragt. Sie waren positiv überrascht, dass ich als junge, queere Person ihre Geschichte hören möchte. Sie haben damals eine Bewegung gestartet und ihre Geschichten sind sehr kostbar – ich wollte sie bewahren für kommende Generation.

 

Du hast mit Queer Utopia den „XR Pitch Battle" der MOIN Filmförderung im vergangenen Jahr gewonnen. Wo hast du von dem Contest gehört und wie wichtig waren für euch die 10.000 Euro Preisgeld?

Lui Avallos: Ich habe vom „XR Pitch Battle" durch unseren Head of Development erfahren, der in der XR-Community sehr aktiv ist. Die Ressourcen von MOIN waren für uns wichtig, um das Projekt in Gang zu bringen und sicherzustellen, dass wir die richtigen Talents für den Bau des Prototyp einstellen konnten.

 

Bei der Biennale in Venedig zeigt ihr in diesem Jahr im Rahmen von Venice Immersive "Queer Utopia: Act I Cruising". Es wird also weitere Teile geben?

Lui Avallos: Man kann Queerness nicht mit nur einem Charakter erklären. Deshalb soll es nur ein erster Startpunkt sein. Wir wollen andere Menschen einladen darüber nachzudenken, wie es weitergehen könnte. Das muss nicht mal in diesem speziellen Format sein. „Queer Utopia: Act I Cruising" hat eine unabhängige Story mit einem Anfang und einem Ende. Es geht um Gabriel und seine Idee von Utopia – die Story ist inspiriert von dem Buch „Cruising Utopia" von Jose Esteban Munoz. In der Installation trifft man Gabriel als einen alten Freund in seiner Wohnung, wo er einem dann gesteht, dass er langsam sein Gedächtnis verliert. Von diesem Punkt aus folgt man ihm auf einer interaktiven VR-Experience durch seine Erinnerungen. Und wie diese aussehen, verraten wir dann bei Venice Immersive.

PS: Die MOIN Filmförderung unterstützt innovative, narrative Projekte vom 360 Grad-Video bis zur immersiven XR-Experience mit Zuschüssen bis zu 50.000 Euro pro Fördermaßnahme. Mehr Infos gibt es hier

Credits: Mundivagante Studio
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