MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

Wenn der Krieg zum Alltag gehört

23.09.2025 | „Short Summer“ auf dem Filmfest Hamburg

Alle Fotos: ©Tamtam Film GmbH

In Venedig gewann das Spielfilmdebüt der in Hamburg und Paris lebenden Filmemacherin Nastia Korkia den Löwen für das beste Erstlingswerk. Nun feiert das stille, eindringliche Drama der Russin auf dem Filmfest Hamburg Premiere. Die in Altona ansässige Produktionsfirma Tamtam Film hat die Produktion verantwortet.

Von Britta Schmeis

Es sind die ersten sechs, sieben Minuten, die den Rhythmus, die poetische Langsamkeit des Filmes vorgeben: Da ist eine karge sommerliche Landschaft zu sehen, sind die Geräusche eines klapprigen Autos zu hören und zappelnde Lichtspiele zu beobachten. Ein Mädchen sitzt in diesem Auto, hält eine Glasscherbe in der Hand und versucht damit die Sonnenstrahlen einzufangen. Es ist eines der zentralen Motive von Nastia Korkias Spielfilmdebüt „Short Summer“ und eines der vielen zarten Details in diesem vielschichtigen, melancholischen, sanft dahin fließenden Werk.

Es sind nicht meine Kindheitserinnerungen. Es ist vielmehr eine Familiengeschichte vor einem größeren Hintergrund.

Nastia Korkia

Nastia Korkia erzählt die Geschichte der siebenjährigen Katya (Maiia Pleshkevich), die 2004 den Sommer mit ihren Großeltern auf dem Land verbringt. Im nahen Tschetschenien herrscht Krieg. Für Katya ist er weit entfernt und doch sind die Zeichen deutlich: Mit einem Freund findet sie ein Flugblatt, auf dem ein Deserteur gesucht wird, Kampfjets fliegen über ihre Köpfe hinweg, und während die Kinder Fußball spielen, rattert ein Güterzug mit Panzern vorüber. „Katya sieht den Krieg, aber sie versteht ihn nicht, nimmt ihn vielleicht auch gar nicht bewusst wahr“, sagt Nastia Korkia. Sie erzählt von einer Kindheit, unbeschwert und doch belastet. Sie habe einen Film machen wollen, um das Land zu verstehen, in dem sie aufgewachsen ist. „Es sind nicht meine Kindheitserinnerungen. Es ist vielmehr eine Familiengeschichte vor einem größeren Hintergrund.“

Drei Kinder laufen durch ein Waldstück
Die Bilder von Katya und ihren Freund*innen scheinen unbeschwert - doch der Krieg ist nicht weit weg

Sprachlosigkeit im Privaten und Politischen

Es ist auch ein Film über die Sprachlosigkeit. Denn Katya stellt Fragen, auf die sie keine Antworten bekommt. Ihre Großeltern befinden sich gerade mitten im Scheidungsprozess und Katya will wissen, wer künftig wo wohnt, wie es weitergeht. Die Antworten aber verwehrt ihr der Großvater (Aleksandr Feklistov), der eine neue Freundin hat. Die Großmutter (Vesna Jovanović), zu der Katya eine zärtliche, liebvolle Beziehung hat, scheint in ein verbittertes Schweigen verfallen zu sein. „Es sind meine Erfahrungen, dass Krieg und dessen Auswirkungen für die Menschen und ihren Alltag immer präsent sind, man aber lieber nicht darüber spricht“, sagt Nastia Korkia, die 1984 geboren ist und somit den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) nicht als Kind, sondern als junge Erwachsene erlebt hat.

Regisseurin Nastia Korkia steht mit zwei Kindern vor einer weißen Logowand
Regisseurin Nastia Korkia und zwei ihrer Kinderdarsteller*innen bei der Weltpremiere in Venedig.

Vordergründig passiert nicht viel in diesem Film. Stattdessen folgt er Katya, wie sie ihre Tage in sommerlicher Trägheit verbringt, mit anderen Kindern durch die Gegend streift. Oft ist sie entfernte Betrachterin, zufällige Zeugin, etwa wenn eine Frau im Amt versucht, einen Totenschein für ihren gefallenen, aber verschollenen Sohn zu bekommen, wie ihr Großvater bei einem Stadtbesuch kurz seine neue Lebensgefährtin trifft. Weit entfernt und durch ein Fenster sind die beiden nur zu sehen. Nur selten verharrt die Kamera von Evgeny Rodin auf den Menschen oder gar den Gesichtern, meist zeigt sie das große Bild, in dem die Menschen kleine Figuren sind. Es geht um das Bobachten, und auch um das genaue Hinsehen, um Dinge zu erfassen, um sie zu fühlen.

„Kindheitserinnerungen haben etwas Magisches“

Und so ist „Short Summer“ auch ein sehr sinnlicher Film, der viele Interpretationen zulässt. Bewusst hat sich Nastia Korkia für den Dreh auf 16-Millimeter-Film entschieden. Die geringere Auflösung und die gröbere Körnung haben etwas Unvermitteltes. „Für mich haben Kindheitserinnerungen immer etwas Verschwommenes und auch Magisches“, sagt sie. Auch die Glasscherbe, mit der Katya immer wieder Lichtspiele schafft, hat sie bewusst gewählt. „Ich wollte ihr kein gewöhnliches Spielzeug in die Hand geben, sondern zeigen, wie sich ein Kind von Alltäglichem inspirieren lässt und damit Schönheit kreiert.“

Sechs Menschen stehen vor einer weißen Logowand um Nastia Korkia herum.
Das Produzent*innen-Team von Short Summer in Venedig 2025

Die Idee zu dem Film hatten Nastia Korkia und ihr Co-Drehbuchautor Mikhail Bushkov bereits vor Beginn des russischen Angriffskrieges, doch dann bekam der Stoff traurige Aktualität. Denn natürlich sind die Parallelen zu erkennen, wie der Krieg in der Ukraine zum Alltag geworden ist, ebenso wie in den Nachbarländern. Nastia lebte bei Kriegsausbruch für ein Studium in Belgien und entschied, nicht zurückzukehren. Ihre russische Produzentin Natalia Drozd lebte damals schon in Hamburg. „Ich wusste, dass es das Beste für den Film ist, wenn ich auch nach Hamburg gehe“, erinnert sich die Regisseurin und Drehbuchautorin. Eine Entscheidung, die sich als richtig erwies.

Hamburger Tamtam Film federführende Produzentin

Im Mai 2022 hatten Andrea Schütte und Dirk Decker von der Hamburger Produktionsfirma Tamtam Film Natalia Drozd in Cannes kennengelernt und entschieden, miteinander zu arbeiten. „Wir waren sofort von dem Projekt überzeugt, weil Nastias Kurzfilme ein großes Talent versprachen und weil das Skript perfekt und wunderschön geschrieben war“, schwärmt Andrea Schütte. Die intensive Atmosphäre, die berührende Art der Erzählung und dass eben nicht alles erklärt werde, habe sie fasziniert.

Tamtam Film ist federführende Produzentin der deutsch-französisch-serbischen Koproduktion. „Mit unserem Standort in Hamburg, der entschiedenen Haltung der MOIN Filmförderung gegenüber komplexen Projekten und der frühen finanziellen Unterstützung bei diesem Projekt hatten und haben wir großes Glück, weil Stadt und Kulturbetrieb sehr weltoffen sind“, sagt die Produzentin. Das habe dem Film viele weitere Türen geöffnet. MOIN hat den Film mit 230.000 Euro gefördert. Am 28. September feiert er nach seiner Weltpremiere in Venedig nun auf dem Filmfest Hamburg Deutschlandpremiere, danach geht er auf eine weltweite Reise. Denn schon jetzt ist er zu zahlreichen Festivals eingeladen, nach London beispielweise und nach Gent, andere werden folgen.

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