Der letzte Totentanz
29.09.2021 | Eine Hamburgerin auf den Spuren des Sprayers von Zürich
In diesem Jahr feiert ein Dokumentarfilm über den berühmtesten Sprayer Zürichs seine Deutschlandpremiere beim Filmfest Hamburg. In „Harald Naegeli – der Sprayer von Zürich" folgt die Hamburger Filmemacherin Nathalie David dem Schweizer Künstler und Utopisten durch seine Schaffenszeit und zeichnet das Porträt eines faszinierenden Freigeists in seiner letzten Lebensphase.
Erst essen beim Vietnamesen, dann gegenseitiges Zeichen – und im Anschluss ein Interview. So liefen viele der Treffen zwischen Nathalie David und Harald Naegeli im Jahr 2019 in Düsseldorf ab. David ist Filmemacherin und Künstlerin aus Hamburg, Naegeli ist seit mehreren Jahrzehnten der wohl bekannteste Sprayer Zürichs, und das mit mittlerweile 81 Jahren. Eine schillernde Persönlichkeit zwischen Kunst und Sachbeschädigung. Ein Rebell und Utopist. Kurzum: Jemand, über den es sich mehr als lohnt, einen Dokumentarfilm zu machen.
Dabei war der Sprayer aus Zürich für Nathalie David lange Zeit ein Unbekannter. Über Umwege lernte sie vor vielen Jahren den Schweizer Produzenten Peter Spoerri kennen. Im Jahr 2018 trafen sich beide beim Filmfest Hamburg wieder – und Spoerri erzählte ihr von der Idee, einen Dokumentarfilm über Harald Naegeli zu machen. „Ich fand die Idee sofort spannend, da Naegeli eben nicht nur Sprayer war, sondern ein Künstler mit vielen Bleistift-, Kohle- und Tuscharbeiten. Und ein echter Utopist! Peter hatte bereits seit 1979 Artikel über ihn ausgeschnitten und gesammelt. Es gab also reichlich Material", sagt Nathalie David. Doch der Start in das Filmprojekt verlief holprig. Naegeli lehnte eine entsprechende Anfrage von David ab, da er gesundheitlich angeschlagen war und in seinem Alter keine Lust mehr hatte, in einem Film aufzutauchen. Doch sie blieb dran und schrieb die nächste Anfrage nicht als Filmemacherin, sondern als Künstlerin. Ein Ansatz, der Naegeli scheinbar gefiel. Er willigte ein und kurze Zeit später begannen die Interviews in Düsseldorf. Die Stadt war 35 Jahre lang sein selbstgewähltes Exil. In der Schweiz liefen diverse Verfahren wegen Sachbeschädigung gegen ihn – und viele Leute waren einfach nicht gut auf ihn zu sprechen.
David fuhr ab März 2019 mehrere Male für jeweils zwei bis drei Tage nach Düsseldorf und sprach mit Naegeli in seinem Atelier. Über sein Leben, über seine Kunst, über seine Überzeugungen und nicht zuletzt auch über den Tod. Der „Totentanz" ist eines seiner bekanntesten Graffitis. Minimalistisch, mit wenigen Strichen. Dadurch jedoch nicht minder kraftvoll. Ein tanzendes Skelett, das er in der Schweiz zahlreiche Male an Häuserfassaden sprayte. Doch seit seiner Krebserkrankung klopfte der Tod auch immer lauter an seine Tür: „In der Regel gingen unsere Interviews etwa drei Stunden. Es konnte aber auch passieren, dass er nach einer Stunde bereits zu müde war und sich zwischendurch schlafen legte", verrät David. Sie besuchte Naegeli in Düsseldorf immer alleine und konnte so Stück für Stück Vertrauen zu ihm aufbauen. Irgendwann durfte sie sich sogar ohne seine Anwesenheit in seinem Atelier aufhalten und filmen. Sie nahm sich Zeit und passte sich seinem Rhythmus an. „Wir zeichneten uns vor fast jedem Gespräch erstmal gegenseitig und sprachen über Kunstthemen. Ein Ritual, um in die Gesprächssituation zu kommen", so David. Im Jahr 2020 entschied der Sprayer von Zürich sich dafür, seine verbleibende Zeit in seiner Heimat zu verbringen und kehrte zurück in die Schweizer Hauptstadt. Und so hatte Nathalie David die Gelegenheit, ihn gemeinsam mit Kameramann Adrian Stähli dort zu filmen, wo alles begann.
Der Film zeigt viele seiner Werke in den Straßen von Zürich und auch Düsseldorf. Skelette, Flamingos, abstrakte Linienzeichnungen. Er zeigt Naegeli beim Treffen mit alten Weggefährten. Er zeigt ihn bei seinem künstlerischen Schaffen. Und er lässt uns in die Gedanken des politischen Aktionskünstlers eintauchen. „Es war faszinierend, einen Freigeist wie Harald Naegeli eine Zeit lang zu begleiten. Er macht, was er will und nimmt sich hierfür Zeit. Das habe ich bei mir selbst lange Zeit vermisst und durch den Film endlich wiederentdeckt", verrät David. Und so nahm sie sich während Corona auch viel Zeit für den Schnitt des Films, der aus Interviews, Archivmaterial, eingeblendeten Schriften und Off-Stimmen besteht. Für die begleitende Musik konnte David neben Adrina Bollinger, die auch als Off-Stimme fungiert, den Schweizer Musikstar Sophie Hunger verpflichten. Auch wenn sie sich am Anfang keine allzu großen Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit machte, komponierte und sang Hunger den Titeltrack "Die Ballade vom Sprayer" nach einem Treffen in Berlin. „Sophie kannte Naegeli durch ihre Eltern, die Naegeli und seine Haltung bereits damals unterstützt hatten. Und so hat es dann nicht lange gedauert, sie für das Projekt zu gewinnen", freut David sich.
Ist „Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich" eigentlich ein politischer Film? Naegeli kämpfte zeitlebens gegen den Kapitalismus, was natürlich auch im Film zur Sprache kommt. Und wo Sachbeschädigung anfängt und Kunst aufhört ist eine Frage, die man wahrscheinlich nicht abschließend beantworten kann. Doch wie damit umgegangen wird, lässt den Zuschauer und auch Nathalie David manchmal ratlos zurück: „Dass man ein Künstler in ein Hochsicherheitsgefängnis steckt wegen seine Kunst – und das im Jahr 1984 – hat mir sehr erschrocken. Wir sind nicht im Iran oder Algerien, sondern mitten in Europa. Das sagt viel über die Schweiz zur damaligen Zeit und ich verstehe auch, warum die Frauen erst 1990 wählen dürfen", so David. Sie sei froh, dass ihr Film selbst ein politisches Statement ist. Ein Statement, das jede*r gesehen haben sollte.